Es war eine düstere, eiskalte Novembernacht und ich war allein zu Hause.
Der Hund hatte schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mitternacht endlich Ruhe gab. Ich wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das alte Haus ächzen und knarren und war gerade eingeschlafen, als ich spürte, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Ich öffnete die Augen und sah einen Lichtkegel zum linken Fenster hereinscheinen. Das ist nicht außergewöhnlich, wenn man in einer Siedlung oder in der Stadt wohnt. Hier draußen in Burkasberg jedoch ist nichts außer unserem Anwesen. Der nächste Nachbar wohnt vier Kilometer weiter. Ich fuhr hoch.
Gleich darauf schwenkte der Lichtkegel nach links weg und das Zimmer war wieder stockfinster. Ich stieg aus dem Bett und schlich zum Fenster, das seitlich über dem Hausportal liegt. Ich äugte vorsichtig am Fensterrahmen vorbei. Ein junger Mann stand in der mit Schotter bedeckten Einfahrt. Er hielt eine Taschenlampe in der rechten Hand und richtete den Lichtkegel seitlich an sein Gesicht. Mit der linken Hand machte er ein Zeichen, dass ich herunterkommen sollte. Der Mann wirkte ungefährlich, trotzdem beschloss ich, die Tür nur mit vorgehängtem Kettenschloss zu öffnen. Hastig warf ich mir meinen Bademantel über und stieg die knarrende Holztreppe hinunter. Ich öffnete die schwere Haustür, die vielmehr ein Haustor war und lugte durch den Türspalt. Der Mann hielt respektvoll einen halben Meter Abstand zur Türe.
„Entschuldigen Sie meine Unverschämtheit, Sie aus Ihrem Schlaf zu reißen. Mein Name ist Josef Breuer. Ich wollte eigentlich nach Regen, habe aber die falsche Abzweigung erwischt. Unglücklicherweise hatte mein Wagen ein paar Kilometer von hier eine Panne und mir blieb bei diesen Temperaturen nichts anderes übrig als nach einem Haus Ausschau zu halten. Wären Sie vielleicht so freundlich und würden mir die Nacht über Unterschlupf gewähren?“
Die gewählte Ausdrucksweise des jungen Mannes verwunderte mich. Hier in der Gegend sprechen die Leute ganz anders. Trotzdem weckte der Mann eine Vertrautheit in mir, so dass ich ohne Bedenken das Türschloss entriegelte.
Er trat zaghaft mit einem schüchternen Lächeln ein. Im leicht beleuchteten Flur sah ich ihn zum ersten Mal richtig. Der Junge war um die 20 Jahre alt und kräftig gebaut. Er hatte ein markantes Gesicht und dunkle, tief liegende Augen. Sein kurzes kastanienbraunes Haar wirkte sehr gepflegt. Ich hatte das Gefühl, ihn irgendwo schon einmal gesehen zu haben, verwarf diesen Gedanken aber gleich wieder, da er viel zu jung und außerdem offensichtlich nicht aus der Gegend war.
Ich bot ihm an, die Nacht auf dem Sofa zu verbringen und gab ihm eine warme Decke. Der junge Mann war sehr zurückhaltend. Er war sehr darauf bedacht, mir nicht zu nahe zu kommen.
„Ich heiße übrigens Bettina und wir können uns gerne duzen“, hörte ich mich zu meinem ungeladenen Gast sagen.
„Josef. Freut mich sehr.“ Er reichte mir die Hand zum Gruß.
Ich kam nicht einmal auf die Idee, mein Schlafzimmer zu verriegeln, als ich mich kurz darauf wieder hinlegte und schon bald friedlich einschlief.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, empfand ich eine angenehme Vorfreude. Ich frisierte mich etwas zu hektisch und stolperte die Treppe hinunter.
Josef stand bereits in meiner alten Eichenholzküche und machte Kaffee. Ich wunderte mich, wie wohl ich mich in der Gegenwart dieses fremden Kerls fühlte. Beim gemeinsamen Frühstück lernten Josef und ich uns besser kennen.
„Was macht dein Mann beruflich? Ist er oft unterwegs?“
„Relativ oft. Er arbeitet im Außendienst. Er fährt regelmäßig die Kfz-Werkstätten im 500 km-Umkreis ab, um ihnen die neuesten Produkte vorzustellen.“
„Und was machst du in der Zwischenzeit? Arbeitest du auch?“
„Nein, ich kümmere mich um mein Haus und die Gartenanlagen. Das Anwesen macht ungeheuer viel Arbeit. Aber es ist seit über 100 Jahren in Familienbesitz und ich sehe es als meine Aufgabe an, es so gut erhalten wie möglich weiterzuvererben. Es fehlen nur noch die Erben“, fügte ich mit einem Seufzer hinzu.
„Das kommt davon, weil dein Mann zu viel unterwegs ist.“ Josef grinste und zuckte mit den Schultern.
„Ist gut möglich“, antwortete ich mit einem gezwungenen Lächeln, das meinen Gast nicht zu überzeugen schien, denn er neigte seinen Kopf ein wenig und fixierte mich prüfend. Kurz darauf zog er seinen rechten Mundwinkel frech nach oben. Ich spürte einen Stich in meiner Magengrube.
Diese Mimik war mir seltsam vertraut. Ich fühlte mich ein wenig verwirrt. Ich konnte mich nicht erinnern, mich einem Menschen nach so kurzer Zeit so stark verbunden gefühlt zu haben. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, er möge nicht so unversehens aus meinem Leben verschwinden wie er hineingetreten ist.
Nach dem Frühstück erledigte Josef einige Telefonate, um sich um seinen kaputten Wagen zu kümmern. Ich ging nach oben. Als unter der Dusche das heiße Wasser auf meinen Körper prasselte, dachte ich an Josef. Warum wirkte er so anziehend auf mich? Ich fand keine Antwort. Frisch geduscht flog ich die Treppe hinunter in die Küche, wo Josef am Esstisch saß, einen Zettel mit handschriftlichen Notizen vor sich liegend. Sein Blick hatte wieder etwas Entschuldigendes und sein Lächeln war zaghaft, so wie letzte Nacht, als er um Einlass gebeten hatte.
„Könntest du mich vielleicht nach Deggendorf fahren? Ich weiß, das ist weit. Aber ich würde dir die Fahrt selbstverständlich bezahlen. Ich habe leider nur in Deggendorf eine Autowerkstatt gefunden, die eine Verteilerkappe für einen 190er SL vorrätig hat.“
Ich hatte nichts weiter vor und mein Mann hatte sich erst für morgen angekündigt. „Kein Problem. Ich werde die Gelegenheit nutzen und ein wenig durch die Läden bummeln. Ich komme ohnehin viel zu selten in die Stadt.“
Eine halbe Stunde später saßen wir schon in meinem Sharan. Im Schlepptau hatten wir Josefs Mercedes 190 SL. Ich wunderte mich, dass er mit einem Oldtimer um diese Jahreszeit so weite Strecken zurücklegte. Zuverlässig schien der Wagen ja nicht gerade zu sein. Zielsicher lotste mich Josef zu der Autowerkstatt in Deggendorf. Gemeinsam lösten wir seinen Wagen vom Abschleppseil und vereinbarten, uns zwei Stunden später wieder dort zu treffen. Gerade als ich den Sharan starten wollte, um mir im Stadtzentrum einen Parkplatz zu suchen, fiel mein Blick auf den dunkelblauen Ford Focus, der auf der rechten Seite der Werkstatthalle geparkt war. Ich stieg aus meinem Wagen und lief auf den Ford zu, bis ich das Nummernschild erkennen konnte. Es war das Auto meines Mannes. Er wollte doch erst morgen von seiner Dienstreise zurückkommen. Und warum hatte er mich nicht angerufen? Vielleicht hatte er vor, mich zu überraschen?
Langsam betrat ich das kühle Dunkel der Werkstatthalle, in das Josef kurz zuvor mit einem Mechaniker verschwunden war. Es war niemand mehr zu sehen. In dumpfer Ferne vernahm ich die Stimme meines Mannes. Er schien sich mit einer Frau zu unterhalten und dem Tonfall nach zu urteilen klang es nicht nach einem beruflichen Gespräch. Mit einem beklemmenden Gefühl schlich ich mich näher an die Stimmen heran. Die beiden hatten sich scheinbar im hintersten Winkel der Werkstatt verkrochen. Nun war ich nahe genug, um die ersten Wortfetzen einer weiblichen Stimme einfangen zu können.
„… es das wert ist?“
„Es gibt keine Alternative, wenn wir das Anwesen wollen. Bei einer Scheidung würde ich absolut leer ausgehen, das weißt du.“
Ich erstarrte und vergaß für ein paar Sekunden zu atmen. Mein Herz begann zu rasen. Zitternd sank ich hinter einem rostigen Werkzeugregal auf die Knie, um zu verhindern, dass ich das Gleichgewicht verlor. Ich fürchtete mich vor dem, was ich noch hören würde. Wieder die Stimme meines Mannes.
„Ich zieh dich da nicht mit rein. Ich erledige das gleich morgen ganz diskret. Keiner wird Verdacht schöpfen. Bettina hatte schon öfter Probleme mit Schwindelgefühlen. Sie war deshalb schon mal beim Arzt. Ein Treppensturz ist bei Schwindel nichts Ungewöhnliches.“
Ich weiß nicht mehr, wie ich aus der Werkstatt gekommen bin. Irgendwie habe ich es geschafft, den Sharan zu erreichen. Mir war das Blut aus dem Gesicht gewichen und ich verspürte eine starke Übelkeit. Die Reifen des Sharans quietschten, als ich auf die Straße bog. Wie in Trance raste ich zurück nach Burkasberg. Daheim schleuderte ich panisch ein paar Kleidungsstücke in eine kaum benutzte Reisetasche. Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber es gelang mir nicht. In meinem Kopf schien das Blut alle zwei Sekunden die Richtung zu wechseln. Mir war schwindlig. Wirre Gedankenfetzen wirbelten durcheinander. Innerhalb von zehn Minuten hatte ich das Haus mit ein paar Habseligkeiten verlassen. Auf dem Weg nach Straubing wurde ich langsam ruhiger. Der feste Griff ums Lenkrad lockerte sich und mein Atem wurde gleichmäßiger. Ich wog mich in Sicherheit. Mein Ziel war das Frauenhaus.
In den kommenden Tagen verließ ich das Straubinger Frauenhaus kaum. Bei der Polizei erstattete ich Anzeige gegen meinen Mann. Ich nahm mir einen Rechtsanwalt, der ins Frauenhaus kam und für mich die Scheidung einreichte. Es tat mir sehr leid, dass ich Josef versetzt hatte. Er hatte bestimmt auf mich gewartet und war dann weitergefahren. Sicher würde ich ihn nie wieder sehen.
Ich kämpfte regelmäßig mit Albträumen.
Von zu Hause hatte ich nicht viel mitgenommen. Mein einziger Schatz waren meine Tagebücher und eine Schachtel mit Briefen und Fotos.
In dieser Schachtel bewahrte ich alles auf, was mir wertvoll war und mich an schöne Augenblicke meines Lebens erinnerte. Ganz unten waren die alten Familienfotos.
Als ich sie eines Tages durchblätterte, stieß ich auf ein Jugendfoto meines Großvaters. Er war vor 18 Jahren gestorben und ich muss zugeben, dass ich lange nicht mehr an ihn gedacht hatte. Beim Anblick des Fotos schnürten sich meine Organe zusammen. Aus dem Bild heraus grinste mich Josef Breuer frech an. Einen Augenblick lang konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Doch dann verstand ich, was passiert war.
Voller Liebe und Dankbarkeit drückte ich das Foto an mein Herz.
Nein, ich würde Josef sicher nie mehr wieder sehen.